Frauke Engel, Hannover - Katalogtext "Thomas Ritter 2007 - 2011, Verlag Depelmann 2011


Farben führen
Die Malerei des Thomas Ritter

Wer sprach wohl das erste Mal vom Rausch der Farben? Was hat Farben immer schon so kostbar gemacht, dass in der Antike horrende Summen für sie gezahlt wurden? Ägyptisch Blau, Purpurrot, Smaragdgrün, Ultramarinblau, gebranntes Siena – die Reihe ließe sich weiter fortsetzen. Die Farben faszinieren in jedem Medium: in der Natur, in der Chemie, im Video und Computer, im Glasfenster, an Wänden, auf der Leinwand und auf dem Papier. Auch wenn die Wissenschaft längst nachgewiesen hat, wie Farben im Gehirn entstehen, ist ihr Zauber lange noch nicht gebannt. Und sind sie vom Gegenstand befreit, entfalten sie ihre Urkraft, ihre unabhängige Wirkung im Auge und im emotionalen Zentrum des Betrachters.

In der Malerei spielen Farben in der Kombination mit Licht die essentielle, die prägnanteste Rolle. Sie entrückt uns in Räume, Welten, in sinnliche Zusammenhänge. So kann der Künstler einem Magier gleich Gefühlen Ausdruck verleihen, Stimmungen erzeugen, Eindrücke vermitteln, die ohne Worte zu einem Zwiegespräch auffordern – allein über das Kunstwerk. Seit dem Impressionismus löst sich die Farbe immer mehr aus dem Gegenständlichen heraus. Sie kann alles schweben oder auch sinken lassen, einen Eindruck widerspiegeln, der aus Strichen oder Punkten zusammengesetzt in unserem Gehirn das Flirren der Hitze, das Glitzern von Wasser oder bewegliche Grün eines Blätterwerks wiedergibt. Durch die jeweilige Erinnerung des Betrachters entstehen so individuelle Bilder, die für jeden anders und neu sein können.

Imblau, ausblau, ausrot – die Titel der Bilder nach dem der Kunstbetrachter so häufig als Orientierungs- und Interpretationsstütze sucht, geben nur bedingt Aufschluss über die Bilder von Thomas Ritter. Sie helfen nicht weiter; sie machen uns lediglich deutlich, dass die Farben eine Hauptrolle spielen. Auch wenn der Künstler zum Teil nach Fotografien von Naturausschnitten, Landschaften arbeitet, abstrahiert er in Schritten den Ursprung so stark, dass er scheinbar verloren geht. „Farben führen“, so beschreibt Ritter seinen Schaffensprozess. Ob eine konkrete Idee zugrunde liegt oder sich aus der Materie heraus eine Komposition entwickelt, ist unterschiedlich. Seine Sujets Figur im Raum, der Raum selbst, die Wechselwirkung des die Sicht Verstellenden mit dem Ausblick, die Natur, das Wasser, „seine“ Bäume – etwa die Birken im geliebten Schweden, die explodierende Vielfalt der Pflanzen im Berggarten, seine Tochter Luca und das Licht sind klassische, wenngleich sehr persönlich geprägte Thematiken des Künstlerlebens. Doch der eigentliche Vorgang des Erschaffens steht im wirklichen Zentrum des künstlerischen Handelns und kann sich so auch vom ursprünglichen Vorhaben lösen. Die Offenheit der Farbe gegenüber – vom mechanischen, manuellen, haptischen Umgang mit ihr bis hin zu ihrer koloristischen Wirkung – führt den Künstler zur der sich langsam herausschälenden Bildaussage.

„Ohne wirkliches Ziel“ gibt sich Thomas Ritter dem Schaffensrausch hin. Dieser entwickelt sich zu einem selbstsüchtigen, mit einer „Portion Gnadenlosigkeit“ versehenen Prozess, der nahezu alles andere ausschließt. Dazu gehört das Sich-auf-sich-Zurückziehen, das Verschließen der Tür und das abweisende Schild am Eingang des Ateliers. Eine Tür, die sonst so bewusst den Menschen – Interessierten, der Familie, den Freunden und Bekannten – geöffnet ist. Dann kapselt sich der Künstler in seiner Welt ein. Er beginnt mit seinen technischen Vorbereitungen, bringt die Grundierung – eine Unterspachtelung – auf die Leinwand, setzt damit Strukturen. Er führt wie E. W. Nay seine „täglichen Exerzitien“ durch, hört über Kopfhörer seine Musik, bereitet sich mit scheinbar banalen Handlungen auf den eigentlichen Schaffensmoment vor. Dieser kann in eine Losgelassenheit übergehen, in eine Trance, in der dann die Farben den Kopf und die Hand führen. Dann, genau dann „bin ich bei mir selber“, erklärt der Maler.
Teilweise arbeitet Ritter an fünf Bildern gleichzeitig, dringt zu verschiedenen Arbeitsabschnitten vor. Er stellt Farbflächen sich gegenüber, lässt die ureigene Kraft der Farben wirken, ihre Wechselbeziehungen entstehen, arbeitet sich auf ein imaginäres oder konkretes Zentrum vor. Äußere Eindrücke wie Fukushima, Gesehenes, Figuratives können einfließen. Die eigene Stimmung und Laune führen zur Auflösung von Formen oder wieder hin zur Konkretisierung.

Bei Ritter herrschen, grob gesprochen, zwei Werkgruppierungen vor: Die eine ist von reinen Farbflächen, häufig zwei sich gegenüberstehenden Farben geprägt. Diese werden aufeinander zu und auch wieder voneinander weggearbeitet. Teils werden sie zur Horizontlinie (Kat. 18) mit einem starken rötlichen Band und schwarzen wie weißen Partien, die noch Gestalten suggerieren, teils verdichten sie sich zu einem Zentrum, das wiederum etwas Figuratives oder Räumliches erfährt. Es entstehen Durchblicke, Lichtpunkte oder auch weiße schemenhafte Figuren in einem grünlichen Farbenmeer („Weißschatten“). Dadurch erhalten die sehr nuanciert durchwirkten Farbflächen eine eigene Dynamik, aber auch eine hohe sinnliche Ausprägung. Die mal erkennbaren („Stonehenge“, Kat. 13), mal auch abstrakt wirkenden Erscheinungen und auch das Ineinanderübergehende der Farbflächen verleihen einigen Bildern einen sphärischen Charakter. Manches Mal erahnt der Betrachter einen Bezug, meint etwa einen Mann mit Gitarre zu erkennen, doch sitzt er hier vielleicht einem Irrlicht auf (ohne Titel, Katalognummer 12)? „Stillwasser“ (Kat. 10) mit seiner Küstenlinie, dem blauen Himmel und dem blauen Rechteck macht seinem poetischen Namen vollkommen Ehre, die zugefügte rötliche Fläche (Kat. 11) hingegen verstärkt wieder die erdgebunden Kraft und verändert so den Ausdruck. Bei „Blume“ (Kat. 37) ist ein Stillleben bis aufs Äußerste reduziert und nimmt doch die Tradition der Blumenstücke des beginnenden 20. Jahrhunderts wie zum Beispiel des Hölzel-Schülers Hans Brühlmann auf.
Die zweite Werkgruppe ist von einem impressionistisch zu nennenden Duktus beherrscht. Teils liegt dies an den verwischten Fotovorlagen, teils aber auch an den malerischen Effekten. So bei den „Birken“- und auch den „Berggarten-Bildern“: Bei dem Gemälde „Birke 3“ (Kat. 31) wird ein an Monets Seerosen erinnernder Eindruck erzielt, in dem das Licht die Schichten der Farben durchdringt und damit das Blau und Grün zum „Klingen“ bringt. Bei diesen Naturbildern wird durch die starken Weißdurchmischungen ein luftiger, fließender, ätherischer Ausdruck erreicht, ohne je dem Lieblichen zu erliegen. „Birken und Licht lösen in mir eine Begeisterung aus, die mich trägt“, so der Künstler, der sich seine Anregungen nicht nur in der Landschaft zwischen Lauenau und Altenhagen bei Hannover holt, sondern sich unter anderem auch von der Natur seines schwedischen Feriendomizils inspirieren lässt.

Thomas Ritter arbeitet in Schichten und dies auch im doppeldeutigen Sinne. Er trägt nicht nur schichtweise die Acrylfarbe auf, er entfernt sie auch wieder: Das Abwaschen oder Verwischen von Farbe ist ein ebenso bedeutender Arbeitsschritt wie das Auftragen der Farbe mit Pinsel oder Spachtel. Ritters Stil ist geprägt von dem fast bildhauerisch zu nennenden Modellieren des Bildausdrucks. Das schichtenweise Überlagern, Zufügen und Entfernen führt selten zu einer schnellen Vollendung. Teilweise werden Bilder weggeräumt und erst nach Monaten wieder in Angriff genommen. Durch diesen künstlerischen Arbeitsprozess, der sich aus einem handwerklichen Vorbereiten entwickelt, entsteht aber auch ein gefährlicher, recht „schmaler Grat der Fertigstellung“, schildert Ritter sein Vorgehen. „Es ist eine Art Nervenkitzel, aber auch ein unendliches Glücksgefühl, wenn es gelingt!“ In diesem Prozess des Schöpfens liegt aber auch die Gefahr der Zerstörung. Wann ist ein Werk wirklich vollendet? „Manches Bild ist bedroht, weitergemalt zu werden“, bestätigt der Künstler. „Das Malen ist Leben, dazu gehört auch das Verändern und Zerstören“. Nur dann ist es letztendlich dahin. Doch Ritter gelingt es so auch, sich den unterschiedlichsten Situationen zu stellen – etwa mit den nach einem Atelierbrand verrußten Gemälden umzugehen und die daraus resultierenden Schäden als „Effekte“ in sein Werk einfließen zu lassen.

Er ist kein Maler, der sich dem konkreten Konzept verpflichtet fühlt. Ritter genießt die Freiheit, sich von seiner Inspiration und Intuition sowie den Farben führen zu lassen und doch hart arbeitend seinen besonderen Stil zu entwickeln. Wenn das Gehirn sich mit seinem Denken und Reflektieren einklinkt, kann dies auch schnell in eine Sackgasse führen und das Thema auf ewig verstellt bleiben. Bei alldem bleibt für Ritter die tägliche künstlerische Herausforderung bestehen, dass das eigene Schaffen für ihn selber immer interessant bleiben muss.

Er sei ruhiger geworden, die Wildheit sei reduzierter, er habe sich mehr zum Mittelpunkt konzentriert, sagt Thomas Ritter über sich und seine Malerei. Das mag an der eigenen Mitte, dem Ruhen in sich selbst, aber auch an Familie und dem Schaffenszentrum im Kesselhaus einer ehemaligen Möbelfabrik in Lauenau liegen. Aber sein unverkennbarer Stil, die Nuancierheit in der Farbgestaltung, die Kraft im Bild und die konzentrierte Komposition sind ihm eigen geblieben. Das Ringen um den richtigen Ton, der lyrische Ausdruck zeigt sich nicht nur in den impressionistisch geprägten Bildern. Gerade die gestalterische Potenz der Farbflächen und die ästhetische Harmonie der Farben zieht sich durch das gesamte Werk und unterstreicht Ritters malerische Stärke. Und es gelingt ihm, dem Ganzen immer auch eine Spur von Geheimnis zu bewahren. Damit ermöglicht er allen Betrachtern den eigenen Schlüssel zu finden.
Auch wenn es Werkgruppen gibt und meist mehrere Bilder nebeneinander geschaffen werden, steht doch jedes Gemälde für sich, ist sich selbst genug. Und wenn es diese in sich ruhende Kraft noch nicht ausstrahlt, dann wird es sicherlich noch über- oder umgearbeitet, dann ist die Vollendung nämlich noch nicht erreicht. Vielleicht wird sie es dann auch nie…