Zum Werk von Thomas Ritter

 

Von Michael Stoeber

 

Thomas Ritter hat sich als Maler von Werken im Geist des Informel und des abstrakten Expressionismus einen Namen gemacht. Für seine Bilder hat er, so lange ich ihn kenne, auf Titel verzichtet und sie lediglich mit Nummern und Angaben zum Format und zum Medium versehen. Eine Eigenart, die er mit Malern bedeutender abstrakter Werke wie Mark Rothko, Barnett Newman, Cy Twombly oder Gerhard Richter teilt. Keiner von ihnen ist bei dieser Art des Titelverzichtes indes so konsequent vorgegangen wie Thomas Ritter.

 

Das ist alles andere als eine Petitesse. Zum einem für die Produktion der Werke und zum anderen für ihre Rezeption. Für die Produktion der Bilder bedeutet es, dass Ritter sie bis heute in großer Freiheit schafft. Er ist wenig daran interessiert, beim Malen ein bestimmtes Thema oder Sujet wirklichkeitsgetreu ins Bild zu setzen. Sondern das Malen vollzieht sich bei ihm in erster Linie als Prozess, in dem seine Aufmerksamkeit ganz und gar dem von ihm mehr oder weniger spontan inszenierten Geschehen auf der Leinwand gilt. Was nicht heißt, dass sein Malprozess beliebig wäre. Sondern die Wahl einer Farbe führt Thomas Ritter notwendig zu einer anderen, ein Pinselzug zu einem weiteren und so fort. Diktiert von dem ebenso intuitiven wie in langen Schaffensjahren erworbenen Wissen des Künstlers um das Wesen der Farbe und des Malens. Ritter malt seine Bilder ganz aus der Farbe und dem Gefühl heraus. Es ist so, als spiele er beim Malen Schach mit sich selbst. Nur, dass die Pinselzüge nicht von den Gesetzen der Logik bestimmt werden, sondern von denen der Farbe. Sie sind für Ritter ebenso selbstverständlich wie sie von ihm beherrscht werden. Wer ihn je beim Malen erlebt hat, angetan mit Kopfhörern, die ihm die Musik zum Tanz seines Pinsels liefern, wird eine Ahnung davon bekommen haben.

 

Sie bestimmen seine Malaktionen selbst dann, wenn er wie bei seinen Aquarellen und Gouachen in die Natur geht, um sich vom Anblick der Landschaft anregen zu lassen. Rein malerisch setzt dabei sofort ein Transformationsprozess bei ihm ein. Ritter malt en plein air weniger das, was er sieht, als das, was er fühlt. Wobei er zwar mit allen Sinnen schaut, aber im Grunde nicht daran interessiert ist, die Wirklichkeit, wie sie ist, ins Bild zu setzen. Für ihn gilt, was Paul Klee als kanonisches Gesetz der Moderne verkündete: Nicht das Sichtbare im Bild wiedergeben, sondern etwas sichtbar machen. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Maler wie der in der Antike lebende Zeuxis Ruhm dafür erwarb, dass er Kirschen so wirklichkeitsgetreu zu malen verstand, dass sich die Vögel des Himmels angeblich auf sie stürzten, um sie von seiner Leinwand zu picken. Was uns die Bilder von Thomas Ritter bieten, sind perfekt inszenierte emotionale Stenogramme. Sie bieten uns die Möglichkeit, sie in Form und Farbe in ganz unterschiedlicher Weise zu lesen und zu verstehen.

 

Was bereits für das eher kleine Format der Aquarelle und Gouachen des Künstlers zutrifft, gilt noch stärker für seine großen Leinwände. Oft sind sie Polychrome, aus vielen Schichten bestehende Farblandschaften, die aus eigenem Recht existieren und keineswegs vorhaben, reale Landschaften auch nur andeutungsweise ins Bild zu setzen. Ohne dass sie indes den Betrachter daran hindern wollen, solche in seiner Rezeption zu imaginieren. Das gilt auch für Ritters Gemälde, in denen äußerst vage Referenzen narrative Elemente nahelegen, wie da wären Figuren im Raum oder Hinweise auf Boote und Seefahrt oder eben auch Landschaften. Alles Gegenständliche bleibt dabei in Ritters Kunst allerdings im Ungefähren und Angedeuteten. Womit er dem Betrachter die Freiheit lässt, zu eigenen Auslegungen seiner Bilder zu kommen, anstatt dass die Werke ihm diese vorgeben würden.

 

In beispielhafter Weise folgt Ritter dabei dem großen Leonardo, dem Schöpfer der weltberühmten „Mona Lisa“, der in seinen Gemälden mit der Sfumato-Technik arbeitete, mit weichen, diffusen und unscharfen Farbübergängen also. Bis heute verführen sie die Betrachter dazu, das Lächeln seiner Protagonistin, der Mona Lisa, ganz unterschiedlich zu deuten. Von heiter bis traurig reichen die Eindrücke, die das Publikum bei ihrem Anblick hat. Eine solche Offenheit und Unschärfe des Werks, die der Künstler als non finito definiert hat, empfiehlt Leonardo in seinem Buch über die Malerei auch seinen Kollegen. Sie sollten ihre Bilder sozusagen nicht zu Ende malen, sondern in ihnen Platz lassen für die Fantasien und Vorstellungen ihrer Betrachter. Denn auf diese Weise werden die Bilder erst wirklich interessant für sie. Die Betrachter sind dann nicht mehr nur passiv Konsumierende, sondern aktiv Partizipierende am Malgeschehen. Leonardo hat damit einen Gedanken antizipiert, der in der Moderne für die Kunstproduktion bestimmend geworden ist. Hier geben die Künstlerinnen und Künstler bewusst keine fertigen Botschaften vor, sondern gestalten ihr Werk vielmehr als ein offenes Feld von Eindrücken, auf dem die Wahrnehmung der Betrachter sich entfaltet. Als Sinnproduzenten werden sie gewissermaßen zu Mitautoren und Mitschöpfer des Kunstwerks.

 

Ähnlich offen und unscharf und damit fruchtbar für die Deutung der Betrachter, präsentiert sich, um nur ein Werk von vielen zu nennen, Thomas Ritters Gemälde, „O. T. (50)“, 2014. Ihm ist in einem eindringlichen, in unterschiedlichen Rottönen leuchtenden Bildgrund zentral wie in einem Medaillon die Bildfigur eingeschrieben. Ihre hell scheinenden Weißpartien bilden einen lebhaften Kontrast zum Bildgrund und seinen dunklen Partien. Man könnte meinen, darin Spuren einer Landschaft zu sehen. Oder ein sich umarmendes Paar. Oder Kämpfende. Oder eine Figur und ihren Schatten. Oder jemand mit einem dunklen alter ego. Viele Deutungen also, abhängig von der Perspektive des Betrachters. Der Bildtitel schweigt sich darüber aus. Umso lebhafter äußert sich der Ausstellungstitel der Ritter-Schau in der Zehntscheune in Stadthagen. Er lautet: „Everything is blurry“.

 

Alles, so teilt er uns mit, ist unscharf, diffus und mehrdeutig. Nichts dagegen klar und eindeutig. Das, so mag wiederum der Betrachter denken, lässt sich nicht nur auf die Bilderwelt beziehen, die Thomas Ritter uns präsentiert, sondern häufig auch auf die ihr zugrundeliegende Wirklichkeit. Insofern lehrt uns der Umgang mit der Kunst Ritters, nicht nur kreativ die Freiheit der Auslegung zu nutzen, sondern gegenüber jeder doktrinären und autoritären Darstellung der Wirklichkeit Misstrauen zu entfalten. Was nicht heißen soll, in allen aktuellen Kommunikationsnetzen gleich Fake News vermuten zu müssen. Ebenso wenig will Ritter uns dazu einladen, die Deutungsfreiheit der Kunst mit Interpretationsanarchismus gleichzusetzen. Ein schwarzes Quadrat, um einmal mehr ein berühmtes Werk aus der Kunstgeschichte als Beispiel anzuführen, kann bei aller Deutungsfreiheit des Betrachters nicht als Sonnenuntergang am Meer missverstanden werden. Jedenfalls nicht, wenn man jemand anderen von seiner Sichtweise ernstlich überzeugen möchte.

 

Darauf, Überzeugungsarbeit für andere zu leisten, kam es allerdings bei einer berühmt gewordenen Titelsuche nicht an. 1966 veröffentlichte der Cobra-Künstler Pierre Aléchinsky in Paris einen Zyklus von sechs Radierungen unter dem Titel „Le test du titre“. Aléchinsky hatte seine Werke bewusst „ohne Titel“ gelassen und legte sie nun 61 Betrachtern vor, Freunden und Bekannten, darunter Künstler, Schriftsteller, Politiker und Filmschaffende, mit der Bitte, den einzelnen Bildern Titel zu geben.

 

 

Das Unternehmen des Künstlers, Le test du titre, also Titeltest, ist äußerst trickreich. Die Titelfindung hat er als schöpferisches Spiel organisiert, in dem das Werk seine eigene Rezeption thematisiert. Dabei waren die Titelgeber von Aléchinsky gebeten worden, möglichst originelle Titel zu finden. So ist ein vielfältiger, poetischer und zum Teil auch humorvoller Dialog zwischen Kunstwerk und Sprache entstanden. Was nur möglich war, weil die Werke offen dafür waren. Und die Betrachter offen für die Werke. Über die Titeltaufen hat der Künstler im Gespräch mit dem Autor dieses Textes geurteilt: „Chacun s’est révélé.“ Soll heißen, jeder der Beteiligten hat sich mit seinem Titel selbst charakterisiert und porträtiert.

 

Michael Stoeber ist Kunstwissenschafltler und Publizist, Hannover